The Internet Source Book for Early German Film
Final update: 11.11.1999 — Editors: Olaf Brill & Thomas Schultke
We shut down. All good things must have an end. - But we'll be back. January 1, 2000. www.filmgeschichte.de
Das Cabinet des Dr. Caligari
1920, Robert Wiene
A D V E R T I S E M E N T S
The legendary Caligari publicity campaign
The Decla film company put advertisements into the film trade press which consisted of two mysterious motifs featuring the famous line "Du musst Caligari werden" (You must become Caligari).
C O N T E M P O R A R Y R E V I E W S
Herbert Juttke: Das Kabinett des Dr. Caligari
Das phantastische Filmspiel "Das Kabinett des Dr. Caligari", das im Marmorhaus über die Leinwand rollt, ist ein Experiment, das man bis in die kleinsten Kleinigkeiten als gelungen bezeichnen darf. Richard Oswald versuchte das Spukhafte im Film in seinen "Nachtgestalten" im naturalistischen Milieu zu schildern, Robert Wiene nimmt den Expressionismus zu Hilfe und untermalt die Handlung im Verein mit seinen vortrefflichen künstlerischen Beratern Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig sehr stark; dadurch werden die eigenartigen Geschehnisse schon äußerlich erfolgreich in ein unheimlich wirkendes Gewand gekleidet.
Die Verfasser Karl Mayer [sic] und Hans Janowitz führen uns zu Beginn in eine Irrenanstalt, in der ein junger Mann (Francis) einem älteren die Wahnideen seines Hirns vorgaukelt. — Das Spezialstudium des Direktors der Anstalt ist der Somnambulismus, den er an Hand eines alten Buches studiert, das den Lebenslauf des Dr. Caligari schildert. Ein Somnambule namens Cäsare [sic] wird eines Tages eingeliefert, und nun läuft das ganze Bestreben des Direktors darauf hinaus, ein Caligari zu werden. Er bezieht mit Cäsare eine Jahrmarktsbude, befiehlt ihm, Mord auf Mord zu begehen, bis er durch Francis gefaßt wird und in seiner eigenen Irrenanstalt als Insasse landet. — Francis hat seine Erzählung beendet und geht mit seinem Gefährten in das Haus zurück. Hier sind all die Gestalten, die er geschildert. Der Direktor kommt, Francis stürzt auf ihn zu: "Du bist Caligari!" Er wird überwältigt und fortgeschleppt, doch der Direktor hat sein Leiden erkannt und kennt nun auch den Schlüssel zu seiner Heilung.
Die Regie Robert Wienes ist eine Leistung wie man sie bisher im Film nur äußerst selten gesehen. Ihm stand eine Reihe erstklassiger Schauspieler zur Verfügung, die er zielbewußt und sicher zu leiten verstand so daß sie sich auch im Spiel und in den Bewegungen dem eigenartigen Milieu vorzüglich anpaßten.
Der prachtvolle Dr. Caligari von Werner Krauß war eine Figur ganz im Geiste E.T.A. Hoffmanns; Conrad Veidt gab den Somnambulen Cäsare ausgezeichnet mit kalter Starrheit und tierischer Wildheit. Die schöne Lil Dagover war eine liebreizende Jane; Fritz Fehér gab temperamentvoll, manchmal etwas zu naturalistisch, den Francis. Hans Heinrich von Twardowsky als sein Freund Allan war besonders eindrucksvoll in der Todesszene. Auch Rudolf Lettinger in einer kleinen Rolle soll nicht vergessen werden.
Die Photographie von Willy Hameister ist einwandfrei. Die erzählenden Titel rollen etwas zu langsam.
Der Eindruck des Werkes war sehr stark und löste ehrlich verdienten Beifall aus, der in erster Linie dem Regisseur und mit ihm allen anderen galt.
Herbert Juttke: Das Kabinett des Dr. Caligari. Der Abend (Berlin) 27.02.1920 (Text transkribiert von Olaf Brill).
K.: Caligari — Expressionismus im Film
Der Film, der gestern in einer Pressevorstellung im Marmorhaus gezeigt wurde, wird schon durch seine selbstironische Aushangmarke "Du muß Caligari werden" — ein modernisierter Erlaß für Manoli links rum — populär werden. Damit aber wäre seine Auffälligkeit nur ganz äußerlich gekennzeichnet. Sein wirklicher Wert liegt darin, daß mit ihm ein völlig neuer, und künstlerisch neuer, Entwicklungsabschnitt des Films erreicht ist. Das bedeutet zugleich wieder einen entscheidenden Vorsprung des deutschen Films in der Weltproduktion.
Der Regisseur der Decla, Dr. Robert Wiene, bekam von den beiden österreichischen Autoren Carl Meyer [sic] und Hans Janowitz ein etwas abstruses Filmbuch "Das Kabinett des Dr. Caligari". Es ist nicht möglich, die absichtlich unlogische Handlung nachzuerzählen. Es ist eine Irrenhausgeschichte, also gegen die Vernunft, Mordtaten eines Somnambulen unter hypnotischem Einfluß, mit anklingenden Problemen des alternierenden Bewußtseins, der Exteriorisation usw. Aber das Thema ist weder pedantisch wissenschaftlich noch brutal kriminell gewendet, sondern romantisch, recht deutlich in die Atmosphäre Meyrinks, Poes, Hoffmanns eingetaucht. Sollte nicht gerade dieses bißchen künstlerischen Stils im Film verloren gehen, so ergab sich sofort die Frage: mit welchen Mitteln kann man die konturverschwommene Stimmung des Unwirklichen, seelisch Verzerrten auf der Leinwand ausdrücken?
Der Regisseur fand die einzig richtige Antwort: nur mit malerischen Mitteln. Jeder nicht naturalistische, also stilisierte oder phantastische Film kann nur als Kontur- und Flächenkunst dargestellt werden. (Es ist hier schon wiederholt darauf verwiesen worden, daß der eigentliche und vorbestimmte "Dichter" der Lichtbildkunst nur der Maler sein kann.) War also der Entschluß zu einem rein malerischen Stil zwingend — und damit begann schon das Experiment — so war es doch nicht der Entschluß zum expressionistischen Stil. Dieser kam nur der besonderen Nervosität des Themas am weitesten entgegen. Deshalb wagte man es mit dem Expressionismus, und es ist durchaus gelungen.
Es ist natürlich noch nicht denkbar vollkommener Expressionismus, der zur Anwendung kam. Die ausführenden Maler, Hermann Warm, Walter Reimann, Walter Röhrig, mußten — Film ist auch Industrie — vorsichtig bleiben. Sie haben aber, wenigstens in der Darstellung der Landschaft, der Architektur, der Kulisse (mit Ausnahme der Möbel), auch nicht kompromisselt. Sie versuchten sogar das unüberwindlich naturalistische Element des Films, den lebenden Menschen, durch Kostüm, Maske usw. stilistisch zu bändigen. Sie werden aus ihrem ersten Versuch auch praktische Lehren ziehen: den expressionistischen Rhythmus der Umrisse noch entschiedener, stärker zu betonen, und die Dekoration noch größer, höher zu machen, um den hierneben verkleinerten Menschen unrealistischer erscheinen zu lassen. Der Regisseur wiederum wird das nächstemal die Geste der Spieler noch willkürlicher modeln. Gestern waren nur Werner Krauß — dessen schauspielerische Leistung in jedem Belang sehr interessant war — und Conrad Veidt soweit wie irgendmöglich stilecht. Danach kam Herr v. Twardowski, im Bewußtsein richtig, in der Ausführung nicht ganz einheitlich. Der schön gezeichnete Kopf Lil Dagovers fügte sich gut, aber verdienstlos ein. Feher, gefällig aussehend und angenehm in der Bewegung, spielte realistisch pathologisch, manchmal sogar nur kintoppdramatisch.
Aber das ist alles nur ästhetische Theorie. Die wichtige Frage ist: Wie ging die Masse des Kinopublikums mit? Das war die andere Überraschung der Aufführung: der Expressionismus, in den Kunstausstellungen noch immer befehdet und verlacht, setzte sich auf der Leinwand mühelos durch. Die schlagend neuartige Wirkung mancher Bilder — ein Jahrmarkt, ein Schattenkampf, eine Flucht über Dächer, Gefängniskorridor und Zelle, Kuppelsaal einer Irrenanstalt — war so stark, daß sie unmittelbaren Beifall auslöste.
Bestätigt sich dieser Erfolg auch auf die Dauer, so ist zu fürchten, daß wir eine Flut "expressionistischer" Filme bekommen werden. Das wäre der Gipfel des Filmkitsches, aber er würde ebenso schnell an seiner Lächerlichkeit wieder untergehen. Gelingen kann es nur, wenn Geschmack, Intellekt und, vor allem, vor allem! künstlerisches Urteil wie hier vereinigt am Werke sind.
K.: Caligari. Expressionismus im Film. B.Z. am Mittag (Berlin) 27.02.1920 (Text transkribiert von Olaf Brill).
Anon.: Der erste expressionistische Film
Seit etlichen Wochen mahnt eine erhobene Hand von Plakaten: "Du mußt Caligari werden!" . . . Jetzt weiß man warum und bekennt sich gern zu dem Filmwerk "Das Kabinett des Dr. Caligari"; es hat im Marmorhaus die Uraufführung erlebt und ist imstande, einen großen Teil der unvermeidlichen und berechtigten Einwände gegen das Filmdrama zu besiegen. Nicht die reichlich abenteuerliche Handlung ist hier das Entscheidende: wesentlich scheint, daß es dem Regisseur gelungen ist, das romantisch Gegeneinanderflutende, das Wirre und Filmkrasse der Handlung malerisch zu durchdringen. Es wird ein expressionistisches Experiment gewagt. Und es ist restlos gelungen. Mit Hilfe dreier Maler — Hermann Worm [sic], Walter Reimann und Walter Röhrig — ist eine bezwingend eindrucksvolle Stilisierung gelungen, die das naturalistische Element nicht ausschaltet. Diese Irrenhausgeschichte, im Stoff schon die Fülle verzerrter Gestalten bergend, ist so oder ähnlich oft genug dagewesen. Erstaunlich ist, wie sie durch die expressionistische Linie an Ausdrucksfähigkeit gewinnt. Einige der Bilder lösten lauten Beifall aus: wenn der Eindruck nicht trügt, dann wird das Publikum den expressionistischen Film aufnehmen. Der erste seiner Art ist freilich ein mit besonderem Verständnis geformtes Werk. Es wird von der reizenden Lil Dagover, dem hier in seinem eigentlichsten Rhythmus lebenden Conradt Veidt [sic], dem jungen Hans Heinrich v. Twardowski und Werner Krauß (eine starke Leistung) mit feinstem Erkennen der neuen Form dargestellt. Es war ein verdienter Erfolg von nicht alltäglichem Ausmaß.
Anon.: Der erste expressionistische Film. Berliner Tageblatt 28.02.1920 (Morgen-Ausgabe) (Text transkribiert von Olaf Brill).
Herbert Ihering: Ein expressionistischer Film
Expressionismus und Film forderten sich gegenseitig heraus. Der Film verlangte als letzte Konsequenz die Uebersteigerung und Rhythmisierung der Gebärde, der Expressionismus die Darstellungs- und Variationsmöglichkeiten der Leinwand. Gerade für den Schauspieler mußte der Film ein Zwang zu extensiver Darstellung werden und so den Tendenzen einer neuen Bühnenkunst entgegenkommen. Wenn man die übernaturalistischen Forderungen des Filmspiels rechtzeitig erkannt hätte, hätte das Kino — trotz der künstlerischen Demoralisierung durch den Betrieb — an der Entwicklung einer präzisen, akzentuierten, durch Sachlichkeit phantastischen mimischen Kunst mitarbeiten können. Aber man blieb soweit zurück und am Stofflichen haften, daß heute der expressionistische Film, der organische Entwicklung sein müßte, für ein sensationelles Experiment gehalten wird.
Es ist bezeichnend, daß das Filmspiel "Das Kabinett des Dr. Caligari" von Carl Mayer und Hans Janowitz nur deshalb von der Regie expressionistisch durchgearbeitet wurde, weil es im — Irrenhause spielt. Man setzt also der Vorstellung der gesunden Wirklichkeit die Vorstellung der kranken Unwirklichkeit entgegen. Oder: Impressionismus ist da, wo man zurechnungsfähig, Expressionismus, wo man unzurechnungsfähig bleibt. Oder: der Wahnsinn als Entschuldigung für eine künstlerische Idee. Aber wir wollen annehmen, daß Conrad [sic] Wiene das expressionistische Wagnis beim zweiten Male nicht so ungeheuer erscheint und er über die Motivierung seines Vorstoßes lacht. Denn für alles gesteigerte, Stoff überwindende Spiel — und das soll der Film geben — ist der Expressionismus Erfordernis und Gesetz. Nicht der Film ist gut, der über das Fehlen des Worts zur Not hinwegtäuscht, sondern der, dessen Vorgänge durch das Wort gestört würden. Der Rhythmus der Lautlosigkeit, der durch Gebärdengliederung die Sprache aufhebt, ist Ende und Ziel.
Im Einzelnen wird dieses Ziel im "Kabinett des Dr. Caligari" zwar angestrebt, aber nicht immer erreicht. Wenn in einer Dekoration, in der sich alle Linien überschneiden, ein handfestes, naturalistisches Bett steht, so wird der Rhythmus aufgehoben. Wenn Schauspieler in Landschaften und Zimmern, die mit ihren Formen über sich selbst hinausstreben, energielos und unbestimmt spielen, so fehlt die Fortsetzung des Prinzips auf den körperlichen Ausdruck. Wenn maskenhaft starr geschminkte Darsteller mit naturalistisch hergerichteten wechseln, so tilgt sich der Stil. Und was sich aneinander steigern sollte, hemmt sich. Von kleineren Rollen abgesehen — Herr Fritz Fehér macht die alte, kitschige, dicke Filmmimik und Lil Dagover ist die süße Talentlosigkeit, die mit ihrer ausdruckslosen Glätte überall, aber hier erst recht unmöglich ist. Der Expressionismus entlarvt. Er verlangt eine unnachgiebige Auswahl der Schauspieler.
In den Gliedern hatten den Stil Conrad Veidt, der über seinen eigenen Körper hinauswuchs, als Somnambule, und das Phänomen Werner Krauß als Dr. Caligari. Aber es ist seltsam: Werner Krauß, der im Schauspiel jeden Akzent ohne verkleinernde Nuancierung aus der unheimlichen Intensität seines Leibes holt, ist im Film, wo die Ausdruckskraft seines Körpers zur letzten Steigerung kommen müßte, oft unruhig und greift zu chargierenden Stützen, die er sonst nicht kennt.
Im übrigen: dieser Film ist im Malerischen — verantwortlich sind dafür die Herren Hermann Warm, Walter Reimann, Walter Röhrig — ein Fortschritt, in der Regie ein Versprechen. Um dies zu erfüllen, müssen Kompromisse entfernt, und für den Schluß die üblichen Rennereien, Verlegenheitsverfolgungen und banalen Gruppierungen weggeräumt werden. Dann kann der Film sich über die technische Beherrschung, die Lubitsch vertritt, zu einer freieren Rhythmisierung und damit zu einer ihm gemäßen Geistigkeit durchringen.
Herbert Ihering: Ein expressionistischer Film. Berliner Börsen-Courier No. 101, 29.02.1920 (Morgen-Ausgabe), S. 8 (Text transkribiert von Olaf Brill). Nachdruck in: 1. Ihering, H.: Von Reinhardt bis Brecht. Bd. 1. Berlin/ DDR: Aufbau 1961, S. 374f. 2. Kaul, W. (Red.): Caligari und Caligarismus. Berlin: Deutsche Kinemathek 1970, S. 36f. 3. Kaes, A. (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film. 1909-1929. Tübingen: Niemeyer; München: dtv 1978, S. 133f. 4. Belach, H. / Bock, H.-M. (Hg.): Das Cabinet des Dr. Caligari. Drehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz zu Robert Wienes Film von 1919/ 20. München: text + kritik 1995, S. 144f.
My (Dr. Wilhelm Meyer): Filmkunst des Malers
Es gilt, eine neue Seite in der Geschichte des Films zu beginnen: "Das Kabinett des Dr. Caligari", durch rhythmische Werberufe in den Lichtkreis allgemeiner Spannung gerückt, hat sich als eine künstlerische Einheit und ein Aufwärts in der Entwicklung des Filmspiels erwiesen; es stellt zum ersten Male die bildende Kunst ebenbürtig neben die darstellende und schweißt Bild und Bewegung zu einer Wirkungsharmonie zusammen. Das Gelingen wiegt doppelt, denn man rief Expressionisten zu Helfern, und konnte sie rufen, da der phantastische Spuk schließlich als das irre Erleben eines kranken Gehirns enträtselt wird. Diese Welt des Wahns, nicht durch flackernde, huschende Visionen, sondern durch die ruhige, aber verzerrte Einstellung eines seelischen Blickes zu geben — das ist in Bildern von seltener körperlicher Geschlossenheit und Stimmungsschwere geglückt. (Drei Maler: Warm, Reimann, Röhrig.) Der Spielleiter Wiene hat mit rühmenswertem Stilgefühl die bewegte menschliche Gestalt den toten und doch mit der Handlung lebenden Hintergründen verbunden. Vor allem der Caligari des Werner Krauß (der hier in die vorderste Reihe der Filmdarsteller tritt) ist in Maske, Miene und Gebärde von gespenstischer Romantik, stärkster E.T.A. Hoffmann; ihm zunächst Veidt mit der Leichenblässe des Somnambulen. Im Abstand Twardowski, Lettinger, Lil Dagover — aber von einem auf den inneren Klang des Spiels abgestimmten Regiewillen zusammengefaßt. Dies ist der bleibende Eindruck: hier ist ein Kunstwerk geschaffen, das willig den natürlichen Gesetzen des Films folgt und sein eigenstes und stärkstes Ausdrucksmittel, das Malerische, in einem Grade der Vollendung zur Auswirkung bringt.
My (Dr. Wilhelm Meyer): Filmkunst des Malers. Vossische Zeitung (Berlin) 29.02.1920 (Text transkribiert von Olaf Brill).
Anon.: Neue Films
Endlich ist die Spannung gelöst. Die geheimnisvollen Plakate: Du mußt Caligari werden, die man in letzter Zeit an allen Anschlagsäulen, Untergrundbahnstationen usw. sah, haben sich als Ankündigungen eines expressionistischen Films entpuppt, der zurzeit im Marmorhaus gezeigt wird. Expressionismus im Film, aber von wahrhaft künstlerischen Wert. Mit der Ausstattung waren die Herren Warm, Raimann [sic] und Röhrig betraut, die keine leichte Aufgabe hatten, da die neuartige Aufmachung leicht hätte lächerlich wirken können. Robert Wiene führte eine vorbildliche Regie. Werner Krauß war Dr. Caligari. Haltung und Minenspiel erinnerten an seine Schigolch-Rolle in der Büchse der Pandora. Conrad Veidt gab einen Somnambulen von unübertrefflicher Meisterschaft in Linie und Bewegung. Lil Dagover gefiel mir weniger als in Harakiri. Auch die übrigen Hauptrollen lagen bei Feher, Twardowski und Lettinger in guten Händen. Wird der Film bei der breiten Masse Anklang finden? Wert ist er es schon, doch wer weiß, ob das Publikum schon reif dafür ist.
Anon.: Neue Films. Die Grosse Glocke (Berlin) 03.03.1920 (Text transkribiert von Olaf Brill).
E.B.: Das Cabinet des Dr. Caligari
"Das Cabinet des Dr. Caligari". Ein Filmspiel in 6 Akten von Carl Mayer und Hans Janowitz. Regie: Robert Wiene, künstlerische Ausstattung: die Kunstmaler Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig. Photographie: Willi Hameister, hergestellt von der Fabrikationsabteilung des Decla-Konzerns, Berlin SW 48.
Berlin hat ein neues Schlagwort mehr. "Du mußt Caligari werden." Seit Wochen schrie einem dieser geheimnisvolle kategorische Imperativ von allen Plakatsäulen entgegen, sprang aus den Spalten aller Tageszeitungen hervor. Eingeweihte fragten: "Sind Sie auch schon Caligari?" So ungefähr wie man früher fragte: "Sie sind wohl Manoli?" Und man munkelte von "Expressionismus im Film" und "verrückt". Nun ist er heraus, dieser erste expressionistische Film und abgesehen davon, daß er im Irrenhause spielt, kann man nichts Verrücktes an ihm finden. Man kann sich zur modernen Kunst stellen, wie man will, in diesem Fall hat sie entschieden eine Berechtigung. Krankhafte Ausgeburten eines irren Geistes finden in diesen verzerrten, seltsam phantastischen Bildern einen zur höchsten Potenz gesteigerten Ausdruck. Die Welt malt sich anders im Hirn eines Wahnsinnigen, und wie die Gestalten seiner Phantasie zum Teil spukhafte Formen annehmen, so zeigt auch die Umwelt, in der sie sich bewegen, ein bizarres Gesicht: schiefe Zimmer mit dreieckigen Fenstern und Türen, unwirklich krumme Häuser und bucklige Gassen. Und man kann von diesen tollen Bildern wie von der Handlung sagen: "Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode." Das Manuskript bringt in durchaus logischer Entwicklung die Erzählung eines Irren, der durch den unter eigenartigen Umständen erfolgten Tod eines Freundes wahnsinnig geworden ist und nun Wahrheit und Phantasie zu einer seltsamen Schauergeschichte verquickt. Ein gewisser Dr. Caligari, den er mit dem Direktor der Anstalt identifiziert und der durch einen Somnambulen, mit dem er auf Jahrmärkten herumzieht, geheimnisvolle Morde ausführen läßt, spielt darin die Hauptrolle. Die Handlung ist packend, viele Szenen direkt von faszinierender, atembeklemmender Wirkung, wie z.B. eine Mordszene, bei der man nur die Schatten der ringenden Personen sieht (technisch übrigens ein hervorragend gelungenes Bild) oder das Traumerlebnis der Braut des Irren, in dem sie von dem Somnambulen überwältigt und über die Dächer hinweg auf schwindelnd schmalem Weg entführt wird. Sehr eindrucksvoll wirkt auch das Schlußbild aus dem Hof des Irrenhauses mit dem Tobsuchtsausbruch des Wahnsinnigen und seiner Unschädlichmachung durch die Zwangsjacke. Fritz Fehér spielt diesen Irren mit vorzüglicher Mimik, wie überhaupt die schauspielerischen Leistungen sämtlicher Mitspielenden ganz hervorragend sind. Werner Kraus [sic] in der phantastischen Maske des Dr. Caligari; ein Kabinettstück, das ihm so leicht keiner nachmacht. Neben ihm Conrad Veidts dämonischer Typ, als Somnambuler von einfach unheimlicher Wirkung; nervenschwache Personen können Alpdrücken davon bekommen. Die Braut des Irren verkörpert Lil Dagover in sanfter Schönheit. Vorzüglich auch in kleineren Rollen, Rudolf Lettinger und Hans Heinz v. Twardowski, der bekannte Dichter und Rezitator. Robert Wiene führt die Regie mit gewohnter Meisterschaft und vermittelte im Verein mit den Kunstmalern Warm, Reimann und Röhrig starke Eindrücke, unterstützt durch die brillante photographische Wiedergabe.
Die Decla-Filmgesellschaft hat mit diesem neuesten Werk bewiesen, daß die Filmkunst noch lange nicht mit ihrem Latein zu Ende ist, und daß noch neue, ungeahnte Möglichkeiten zu ihrer Weiterentwicklung offen stehen.
E.B.: Das Cabinet des Dr. Caligari. Der Kinematograph (Düsseldorf) Nr. 686, 03.03.1920 (Text transkribiert von Olaf Brill).
Christian Flüggen: Das Kabinet des Dr. Caligari
Wie man sich auch zu dem Film, den man in den Kammerlichtspielen und im Lichtschauspielhaus sah, stellen mag, eines muß ihm zugestanden werden: Es ist mal was anderes! Der Expressionismus, — meinetwegen Dadaismus — bisher Vorrecht der Sprechbühne, ist nun auch auf die Leinwand gesprungen und treibt dort sein eigenartiges Spiel. In unruhvollen Zeiten, die Tatkraft und Tat erfordern, ist das menschliche Gemüt nur zu leicht geneigt, dem Glauben an das Wunderbare sich hinzugeben. Kometen, Weltuntergang, Prophezeihungen, — nie sind sie mehr in Schwung, als wenn grausame Wirklichkeit auf den Menschen lastet. Dieser Hang zum Wunderbaren und Phantastischen hat von je Widerhall auf der Bühne, die ja das Spiegelbild des Lebens ist, gefunden. Das Außergewöhnliche, Spukhafte, Grausige begegnet uns auch in dem neuen Decla-Film. "Das Kabinett des Dr. Caligari" zeigt uns die Fieberphantasien eines Geisteskranken. Um die Sache ausdrucksvoll zu machen, werden diese Irrgänge eines menschlichen Hirnes expressionistisch vorgeführt, das heißt Logik, Statik, kurzum alle Gesetze der Dinge im Raum sind über Bord geworfen und es bleibt ein Kunterbunt, in dem die Menschen, die sich nun einmal noch immer nicht den Kopf zwischen die Arme nehmen oder die zwei Arme an eine Seite setzen können, geradezu altmodisch ausnehmen. Daß der Film trotz alledem stark interessiert, spricht für die ungeheuer reichen Darstellungsmöglichkeiten, die dieser Kunst eigen. Und spricht auch für die hohe künstlerische Leistungsfähigkeit der Decla, die die schwierige Aufgabe restlos löste und die verwegenen Sujets, der Saal in einer Irrenanstalt, Flucht über die Dächer usw. in packenden Bildern auf die Leinwand brachte. Unter den Darstellern seien genannt Lisl Dagover [sic], Konrad Veidt [sic] und Werner Kraus [sic], der ganz besonders gut charakterisiert.
Christian Flüggen: Das Kabinet des Dr. Caligari. Deutsche Lichtspiel-Zeitung (München-Berlin) Nr. 12/13, 27.03.1920, S. 2 (Text transkribiert von Olaf Brill). Nachdruck in: Belach, H. / Bock, H.-M. (Hg.): Das Cabinet des Dr. Caligari. Drehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz zu Robert Wienes Film von 1919/ 20. München: text + kritik 1995, S. 147.
More
- J. B. (J. Brandt): Expressionismus im Film. Die neue Kunst im Film. Film-Kurier 06.01.1920, S. 1.
- Wbg.: Expressionismus im Film. Lichtbild-Bühne 24.01.1920, S. 26.
- Groth, C. (J. Sternheim): Eine Offenbarung. Film und Brettl 2/ 1920, S. 5.
- 8-Uhr-Abendblatt (Berlin) 27.02.1920.
- Neue Berliner Zeitung (Berlin) 27.02.1920.
- Die Post (Berlin) 27.02.1920.
- P.I.: Das Kabinett des Dr. Caligari. Der Film Nr. 9, 28.02.1920, S. 42. Nachdruck in: Belach, H. / Bock, H.-M. (Hg.): Das Cabinet des Dr. Caligari. Drehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz zu Robert Wienes Film von 1919/ 20. München: text + kritik 1995, S. 142f.
- Anon.: Das Kabinett des Dr. Caligari. Film-Kurier 28.02.1920, S. 1.
- Anon.: Das Kabinett des Dr. Kaligari. Lichtbild-Bühne Nr. 9, 28.02.1920, S. 16-8. Nachdruck in: Belach, H. / Bock, H.-M. (Hg.): Das Cabinet des Dr. Caligari. Drehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz zu Robert Wienes Film von 1919/ 20. München: text + kritik 1995, S. 140f.
- Berliner Abendpost (Berlin) 29.02.1920.
- Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin) 29.02.1920.
- Proskauer, M.: Das Kabinett des Dr. Caligari. Ein Nachwort und eine Prophezeiung. Film-Kurier 29.02.1920, S. 2. Nachdruck in: Belach, H. / Bock, H.-M. (Hg.): Das Cabinet des Dr. Caligari. Drehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz zu Robert Wienes Film von 1919/ 20. München: text + kritik 1995, S. 143f.
- Die Freiheit (Berlin) 03.03.1920.
- Danziger Zeitung (Danzig) 06.03.1920.
- Momus: Unsere 'boshafte' Seite. Der Film 06.03.1920, S. 44-47.
- Ostsee-Zeitung (Stettin) 08.03.1920.
- R.B.: Caligari oder Herrin der Welt? Prunkfilm oder expressionistischer Film? Film-Kurier 09.03.1920, S. 1.
- Panter, P. (K. Tucholsky): Dr. Caligari. Die Weltbühne 16/ I, 11.03.1920, S. 347f. Nachdruck in: 1. Kaul, W. (Red.): Caligari und Caligarismus. Berlin: Deutsche Kinemathek 1970, S. 35f. 2. Prinzler, H. H. / Gebauer, D. / Seidler, W. (Red.): Verleihkatalog Nr. 1. Frankfurt/ M., Wiesbaden, Berlin: Deutsches Institut für Filmkunde, Stiftung Deutsche Kinemathek 1986, S. 66. 3. Jacobsen, W. (Hg.): Conrad Veidt. Lebensbilder. Berlin: Argon 1993, S. 27-30. 4. Belach, H. / Bock, H.-M. (Hg.): Das Cabinet des Dr. Caligari. Drehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz zu Robert Wienes Film von 1919/ 20. München: text + kritik 1995, S. 146f.
- Vorwärts (Berlin) 13.03.1920.
- Balthasar (R. Schacht): Caligari. Freie Deutsche Bühne 14.03.1920, S. 695-698.
- Münchner Neueste Nachrichten (München) 03.04.1920.
- Angel, E.: Ein 'expressionistischer' Film. Die Neue Schaubühne 4/ 1920, S. 103-105. Nachdruck in: 1. Kaes, A. (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film. 1909-1929. Tübingen: Niemeyer; München: dtv, S. 134-136. 2. Belach, H. / Bock, H.-M. (Hg.): Das Cabinet des Dr. Caligari. Drehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz zu Robert Wienes Film von 1919/ 20. München: text + kritik 1995, S. 139f.
- Perlmann, A.: Das Kabinett des Dr. Caligari. Der Kinematograph 16.05.1920.
- Beßmertny, A.: Ein expressionistischer Film. Die Neue Schaubühne 5/ 1920, S. 136f.
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