Du mußt Caligari werden

The Internet Source Book for Early German Film

Final update: 11.11.1999 — Editors: Olaf Brill & Thomas Schultke
We shut down. All good things must have an end. - But we'll be back. January 1, 2000. www.filmgeschichte.de


Caligari

 Das Cabinet des Dr. Caligari

1920, Robert Wiene





 Like a drop of wine in an ocean of salt water, The Cabinet of Dr. Caligari appeared in the profusion of films during the year 1920. Almost immediately it created a sensation by nature of its complete dissimilarity to any other film yet made. It was, once and for all, the first attempt at the expression of a creative mind in the new medium of cinematography. (Paul Rotha: The Film Till Now, 1930)

Note: Olaf Brill is currently working on a doctoral thesis about the genesis of Das Cabinet des Dr. Caligari.



 D A T A   S H E E T


Das Cabinet des Dr. Caligari (1920)
The Cabinet of Dr. Caligari
Le Cabinet du Dr. Caligari

Decla Produktionsgesellschaft / Production company: Decla-Film-Gesellschaft Holz & Co., Berlin.
Produktionszeit / production time: December 1919 – January 1920.
Atelier / Studio: Lixie-Atelier, Berlin-Weißensee.
Premiere / Première: 1920 February 27, Marmorhaus, Berlin.
Drehbuch / Writer: Carl Mayer, Hans Janowitz.
Regie / Director: Robert Wiene.
Produktionsleiter / Executive Producer: Rudolf Meinert.
Bauten / Set designer: Hermann Warm, Walter Reimann, Walter Röhrig.
Kostüme / Costume designer: Walter Reimann.
Kamera / Photographer: Willy Hameister.
Darsteller / Cast:
Fassungen / Versions:
Drehbuch bei / Script available:
Kopien bei / Prints available:
Musikfassungen / Musical versions:
comic cover Caligari Adaptionen / Adaptions:
Remakes / Remakes:
Bela Lugosi's dead Bezüge in der Pop-Kultur / Pop culture references:



 A N N O U N C E M E N T S   I N   C O N T E M P O R A R Y   P R E S S Batman: Nosferatu


Direktor Rudolf Meinert von der Decla-Film-Gesellschaft bittet uns mitzuteilen, daß die in unserem Blatte gebrachte Notiz über den dritten Film der Decla-Weltklasse "Das Kabinett des Dr. Kaligaris" insofern nicht den Tatsachen entspricht, als nicht er selbst die künstlerische Oberleitung in diesem Film führt, sondern daß Herr Dr. Robert Wiene diesen außerordentlichen Film in jeder Beziehung völlig selbständig arbeitet, somit auch alleinigen Anspruch auf die künstlerische Leitung dieses Films zu machen hat. (Wir begrüßen diese Äußerung des Herrn Meinert auf das Symphatischste, da er mit diesen Zeilen als erster dazu beiträgt, dem Verdienst seine Krone werden zu lassen, und es ablehnt, die Früchte der Arbeit Anderer für sich zu beanspruchen, wie dies durch ähnliche Verklausulierungen anderweitig schon wiederholt geschehen ist. D. Red.)

Meldung im Film-Kurier 11.01.1920, S. 3 (Text transkribiert von Olaf Brill).





Wbg.: Expressionismus im Film

Der von der "Decla" vorbereitete Film "Das Kabinett des Dr. Kaligari" soll bekanntlich der erste expressionistische Film werden. So bietet denn das Atelier draußen in Weißensee, wo unter Leitung von Herrn Dr. Wiene die Aufnahmen gemacht werden, gegenwärtig einen recht seltsamen Anblick. Im Hintergrund eine expressionistische Stadt, zuckerhutartig himmelansteigend, mit Häusern, die sich vor Leibweh krümmen. Vorn ein "Rummel" mit windschiefen Karussels und stark kontrastierenden Farben. Zweifellos ein interessantes Experiment. Für den Film, der ja allein auf Wirkung durch das Bild beschränkt ist, liegen vielleicht in der Verwertung expressionistischer Formen mit ihrer übersteigerten und konzentrierten Ausdrucksweise, große Möglichkeiten.

Wbg.: Expressionismus im Film. Meldung in Lichtbild-Bühne No. 4, 24.01.1920, S. 26 (Text transkribiert von Olaf Brill).





Die Aufnahmen zu dem dritten Film der Decla-Weltklasse "Das Kabinett des Dr. Kaligari" (Manuskript von Carl Mayer und Hans Janowitz) sind unter der Regie von Robert Wiene fertiggestellt. Der Film ist in Kürze vorführungsbereit. Die männlichen Hauptrollen werden von Werner Krauß (Dr. Kaligari), Conrad Veidt (ein Somnambuler), Fritz Fehér (Francis), Hans v. Twardowski und Rudolf Lettinger dargestellt. Die Rolle der Jane wird von Lil Dagover verkörpert. Die gesamte Ausstattung und Dekoration liegt in den Händen der Kunstmaler Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrich [sic].

Meldung in Lichtbild-Bühne No. 6, 07.02.1920, S. 22 (Text transkribiert von Olaf Brill).





Aros (Alfred Rosenthal): Der expressionistische Film

Wir haben das stilisierte Bild, wir haben die stilisierte Bühne und sollen jetzt den stilisierten Film bekommen. Was Ernst Lubitsch in seiner Puppe leise andeutete, die Möglichkeit, die die Wegenerfilme ahnen ließen, werden in einem Film von Karl Mayer und Hans Jannowitz jetzt restlos durchgeführt.

Ein junger expressionistischer Künstler, Walter Reimann, hat die gesamte Architektur dieses Bildes nach expressionistischen Grundsätzen geschaffen. Straßen, Häuser, Zimmer, Beleuchtung; alles wirkt etwa so, wie wir es in hypermodernen Ausstellungen auf den Bildern sehen.

Das ist ein Versuch, der weit über die Kreise der Filmleute hinaus Beachtung finden muß. Das ist vielleicht eine Probe auf die Berechtigung dieser Kunstrichtung überhaupt.

Das Manuskript kommt diesem Versuch durch seine Phantastik besonders entgegen, obwohl es nicht von vornherein für den Sonderzweck zugeschnitten war.

Wenn man die Auslegung gelten lassen will, daß Expressionismus nichts weiter bedeutet als Steigerung des Ausdrucks, so könnte vielleicht hier für das lebende Bild der Anfang einer ähnlichen revolutionären Umwälzung sein, wie wir sie bei dem Schauspiel erlebten, als man von der realistischen Dekoration zur Vorhangbühne überging. Man wird auf die Erstaufführung des "Dr. Caligari" besonders gespannt sein dürfen.

Aros (Alfred Rosenthal): Der expressionistische Film. Berliner Börsen-Courier No. 79, 17.02.1920 (Morgen-Ausgabe), S. 6 (Text transkribiert von Olaf Brill).



 R E P O R T S   A B O U T   T H E   F I L M ' S   P R O D U C T I O N


Dr. J.B. (J. Brandt): Expressionismus im Film — Die neue Kunst im Film

Der Film ist keine malerische Kunst, ebensowenig wie eine rein dramatische. Er ist mit beiden in gewissem Sinne verwandt, hat mit beiden gemeinsame Elemente, aber sein Wesen liegt auf einer anderen Linie. Dennoch bedingt die an einigen Punkten unverkennbare Berührung eine wertvolle Befruchtung.

Zuerst drängte man den Film, seine Grundlagen verkennend, nach dem Theater und führte ihn dadurch einen falschen Weg, denn je mehr er sich dem Theater nähert, desto mehr verliert er seine Selbständigkeit und erhält den Charakter eines minderen Surrogates. Die Filmoper ebenso wie die vielen Versuche mit dem sprechenden Film waren daher nicht Fortschritte, sondern Abwege.

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Nicht minder verhängisvoll ist die Auffassung des Filmes als bloß bewegtes Bild, also das absolute Hervorheben des Malerischen. Dadurch geht ihm wieder ein Grundelement verloren: das dramatische. Malerei ist Ruhe, der Film aber ist fortschreitende Handlung, Malerei ist künstlerisches Ergebnis einer Absicht, der Film fortlaufende Entwicklung eines dichterischen Gedankens.

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Das Richtige liegt in der Mitte. Wenn der Film seine eigene Linie bewahren will, darf er sich nach keiner Seite wenden, muß aber Anregungen von allen Seiten suchen und sie für seine Zwecke umwerten.

Das Bildnerische, das in der ersten Zeit völlig unbeachtet blieb, gewinnt nunmehr immer größeren Einfluß. Zuerst begann man der bis dahin arg vernachlässigten Raumkunst die ihr gebührende Bedeutung beizumessen, und heute sind bereits die hervorragendsten Raumkünstler beim Film heimisch geworden.

Die bildmäßige Gestaltung der einzelnen Szene in ihrer Gesamtwirkung war ein weiterer Schritt, und wir haben eine ganze Anzahl von erfolgreichen Regisseuren, bei denen der dramatische Aufbau mit dem malerischen Hand in Hand geht. Für den künstlerischen Werdegang des Films war dies ein weiterer wesentlicher Schritt nach aufwärts.

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Bei den mannigfachen Versuchen der letzten Zeit, das Erreichte weiter auszubauen und nach neuen gangbaren Wegen zu suchen, war das Eindringen der modernsten Kunstrichtung nur eine Frage der Zeit. Nun ist auch dieser Schritt bereits getan, und wieder einmal eröffnen sich für die Zukunft Aussichten von ungeahnter Entwicklungsmöglichkeit. Der Expressionismus hat seinen Einzug in die Filmkunst gehalten.

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Im Decla-Atelier in Weißensee reift der erste erfolgversprechende Versuch seiner Vollendung entgegen.

Das Abrücken vom billigen Tageserfolg, das Streben nach künstlerischen und kulturellen Werten war bei diesem ernst und ruhig arbeitenden Konzern seit jeher das Grundprinzip. Nun ist zu den Herren Pommer und Sternheim, die mit zielbewußter Energie die bisherigen Grundlagen erreicht haben, ein neuer Mann getreten, Rudolf Meinert, dem hier Gelegenheit gegeben wird, seine bisherigen praktischen Erfahrungen mit großzügigen Mitteln in die Tat umzusetzen.

Es war eine Tat, unbekümmert um den späteren materiellen Erfolg oder Mißerfolg, der Anregung Robert Wienes zu folgen und ihm als Regisseur freie Hand für den künstlerisch hoch bedeutsamen Versuch des Expressionismus im Film zu lassen. Man mag über das geschäftliche Ergebnis prophezeien, wie man will, eines ist sicher: eine große künstlerische Absicht ist hier im Werden, und letzten Endes hat noch immer der ernste, unbeugsame Kunstwille seinen verdienten Lohn gefunden.

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Der neue Decla-Film "Das Kabinett des Dr. Caligaris" von Hans Yanow und Karl Mayer, bot dem Regisseur Robert Wiene die willkommene Gelegenheit für einen lange gehegten Plan. Die spukhaft-skurrile Wahnsinnsphantasie, die Geschichte dieses seltsamen Dr. Caligaris und der somnambulen Wachspuppe kam diesen Absichten ganz außerordentlich entgegen. In den Malern Warm, Reimann und Röhrig fand er schaffensfrohe, reich begabte Mitarbeiter, und die einzelnen Szenen, die ich jüngst sehen konnte, lassen Ueberzeugendes von der Vollendung erwarten.

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Bevor man einen Blick in diese neue Welt getan hat, ist man skeptisch. Man kann sich die schiefen Linien, die Dreieck- und Viereckfiguren der modernen Malerei nicht plastisch im Raume vorstellen, vermutet eine Verdoppelung des Unwahrscheinlichen. Besonders befremdend in der Realität der Filmphotographie.

Aber der Eindruck verscheucht alle Zweifel. Ich sah zuerst eine Dachstube. Ein tief überhängendes Dach. Ganz im Hintergrund ein Fenster mit willkürlich schräge gekreuzten Fensterstangen, in der Ferne die Silhouette eines Daches mit schiefen Rauchfängen. In der Stube ein ärmliches Bett und zwei Stühle mit unendlich hohen Lehnen. Breitflächige Malerei liegt an der Wand, greift über auf das Bettgestell. Die Einzelheiten sind absonderlich, aber niemals habe ich in einer Dekoration den Eindruck der beklemmenden Oede, der quälenden Einsamkeit so tief und unmittelbar empfunden wie hier.

Noch überwältigender in seiner Eigenart wirkte die winkelige Jahrmarktsbude mit ihren tief hereingebauschten Sofitten und diesem Publikum, dessen spitze, an das Biedermeier erinnernde Hüte seltsam aus der Masse herausragen. Niemand kann sich diesem starken Eindruck entziehen, nicht einmal die unkompliziert fühlenden Komparsen und Arbeiter, die doch solch neuer Kunst sicherlich fremd gegenüberstehen.

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In diese phantasiegeborene, unwirkliche Umwelt mußten nun die handelnden Personen des Dramas gestellt, mußten diesem neuartigen Milieu erst angepaßt und in ihm lebendig werden. Dabei war eine gefährliche Klippe zu umsegeln. Denn die Dekorationen hätten sonst leicht den Eindruck erwecken können, als wolle man dadurch die Wahnsinnsideen deutlich machen. Aber dieses Problem ist mit künstlerischem Geschmack glücklich gelöst, indem auch die tatsächliche Rahmengeschichte in ständiger Beziehung zu der szenischen Gestaltung bleibt.

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Es ist geradezu verblüffend, wie die Darsteller sich in diese Stimmungswelt eingefühlt haben, wie sie aus dem Empfinden einer wahrhaft künstlerischen Atmosphäre heraus sich ganz dem Grundstil gefangen geben.

Faszinierend die untersetzte Gestalt von Werner Krauß. Halb Striese und halb E.T.A. Hoffmannsche Spukfigur. Alle seine Bewegungen, die seltsamen Gesten der Arme und Hände, der schlurfende Gang, der Timbre seiner Stimme, entkeimen dem Stil der Szene. Er ist nicht mehr Krauß, er ist Dr. Caligaris, wie er leibt und lebt, nicht nur in den kurzen Zeiträumen der Aufnahme, sondern in seinem ganzen Wesen, auch während der Pausen, im Gespräch.

Conrad Veidt, unheimlich grotesk, lang und hager in dem schwarzen Trikot, grell geschminkt mit gespenstig tiefliegenden Augen, die Doppelfigur der Jahrmarktswachspuppe und des Somnambulen, der nun Werkzeug des Verbrechens gilt. Friedrich Fehér wirkt trotz der Realität der von ihm dargestellten Rolle dennoch mystisch umdämmert in dem schwarzen Radmantel, mit dem Glühen des Wahnsinns in den Augen. Lil Dagover mit künstlich gedrehten Hängelocken, ein lebend gewordenes Bild von Sainsborough, H. H. von Twardowsky, abgezehrt und traumverloren, der Leidende in einsamer Dachkammer.

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Die Maler sind eifrig bei der Sache. In allem, was sie gestalten, in den großen Umrissen wie in den kleinsten Einzelheiten, liegt ein bewußter künstlerischer Wille. Selbst bei den befremdendsten Motiven hat man niemals den Eindruck des Erklügelten, Konstruierten, sondern eines warmblütigen Schaffens aus dem innersten Empfinden heraus.

Kaum jemals war ein Atelierbesuch so interessant, so neuartig und so anregend wie dieser. Man darf auf das Ergebnis dieses Films wirklich gespannt sein; denn er ist ein neuer Weg, ein Fortschreiten mit dem Blick nach aufwärts, ist Pionierarbeit im Neuland und als solche eine Tat.

Dr. J.B. (J. Brandt): Expressionismus im Film. Die neue Kunst im Film. Film-Kurier (Berlin) 06.01.1920, S. 1 (Text transkribiert von Olaf Brill).





Claus Groth (Julius Sternheim): Du mußt Caligari werden

Vor einigen Wochen tauchte in Berlin ein neues Schlagwort auf: "Du mußt Caligari werden". Von den Anschlagsäulen, in der Untergrundbahn, in den großen Cafés, von überallher rief es einem in grellen Farben an, und der Ruf pflanzte sich fort. In den Nachtbars und Klubs, auf der Straße sprachen Freunde und Bekannte uns mit dem kategorischen Imperativ an, ohne daß ein Mensch gewußt hätte, was diese Worte eigentlich bedeuten. Als kürzlich aber gar jemand behauptete, er sei bereits Caligari, beschloß ich der Bedeutung der Worte auf den Grund zu gehen, denn schließlich muß man doch den Ursprung geflügelter Worte wissen. In den Declaateliers in Weißensee fand ich dann die Spur. Der graubärtige Cerberus an der Tür erklärte mir, der Weg zu Caligari führe nur über seine Leiche. "Du sollst nicht töten", dachte ich und schlich mich durch die Hintertür ins Atelier, wo ich von dem Regisseur Robert Wiene erst mißtrauisch, als ich mich jedoch als Pressevertreter legitimierte, äußerst liebenswürdig empfangen wurde. Dadurch ermutigt und um meine Unwissenheit nach Möglichkeit zu verbergen, begann ich mein Interview mit der Frage: "Sind Sie auch schon Caligari?", worauf er stutzte und bejahen zu wollen schien, dann schüttelte er aber energisch den Kopf und sagte: "Gott sei Dank noch nicht, [S. 3] aber sicherlich, wenn der Film fertig ist, und Caligari? — — Da hören Sie, wie er brüllt." Im gleichen Moment erhob sich ein ohrenbetäubender Lärm und erschreckt und neugierig lief ich dem Regisseur Robert Wiene nach, der auf den Lärm hin auf seinen Posten zurückeilte. Ich kam noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er zu meinem Erstaunen Werner Krauß in der vorzüglichen Maske eines Gelehrten in die Zwangsjacke stecken ließ, während Fritz Fehér mit geradezu satanischem Grinsen die Prozedur verfolgte. Er hatte aber zu früh gelacht, denn schon 5 Minuten später war ich Zeuge, wie Wiene Werner Krauß — er war der Dr. Caligari — befreien ließ, um nun Fehér selbst in dieses so gut in die heutige Zeit passende Kleidungsstück hineinzustecken. Das alles war so aufregend und spielte sich so blitzschnell ab, daß ich in den Bann des ominösen Imperativs geriet und fühlte, hier muß man Caligari werden. In der auf diese Szene folgenden Pause machte mich Rudolf Meinert, der Leiter der Declafabrikationsabteilung mit den übrigen Mitarbeitern des Films bekannt. Conrad Veidt in der Maske eines Somnambulen (Cesare) hätte ich in der Tat nicht wiedererkannt und auch Lil Dagover machte zuerst derart weltferne Augen, daß ich sie nur an ihrem reizenden Lächeln wiedererkannte, mit dem sie mich als alten Freund begrüßte. Jetzt wußte ich mit einem Male: dies mußte der expressionistische Film sein, von dem sie mir vor Wochen bereits vorgeschwärmt hatte. Expressionistischer Film? — Wie mans [S. 4] nehmen will, fiel der Regisseur Robert Wiene mir ins Wort und präsentiert mir gleichzeitig seine künstlerischen Mitarbeiter, die Kunstmaler Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig, die sich alle drei zu gleicher Zeit räusperten. Ich übersetzte mir dieses Räuspern sofort richtig und bat um Entschuldigung und Aufklärung und ließ mir von jedem der Herren einen Vortrag halten über Kunst im Allgemeinen, dann Expressionismus in der Kunst überhaupt, und im Film im Besonderen. Ich wurde herumgeführt, ließ mir erklären und mich belehren, und möchte den Herren auf diesem Wege für die äußerst anregende halbe Stunde, die mich den Ernst und die künstlerische Gewissenhaftigkeit, mit der hier von allen Seiten unter Wienes Regie gearbeitet wurde, erkennen und bewundern ließen, meinen Dank abstatten.

Die Quintessenz der Ausführungen, die viele künstlerische Wahrheiten enthielten, will ich hier kurz wiedergeben.

Der "expressionistische Film" ist ein Schlagwort, eine nach Sensation haschende Phrase, meinte der Maler Reimann. Es gibt keinen expressionistischen Film, sondern der Expressionismus ist — filmtechnisch gesprochen — die rythmische Steigerung des dramatischen Gedankens im Manuskript, nicht mehr auf der bisher allgemein angewandten naturalistischen Basis, sondern auf der rein künstlerischen Empfindung aufgebaut. Und diese wieder findet notwendigerweise im Expressionismus ihren allein gültigen und allerstärksten Ausdruck.

Die rein geistige Durcharbeitung des Manuskriptes, das unbedingte Erfassen der vom Autor gesehenen und erfühlten Situation, denen das gesprochene Wort nicht zu Hilfe kommen kann, ist es, was dem Expressionismus den Weg zum Film und wie ich hoffe, den auch allgemein zur freien Kunst ebnen wird, denn manch einer, dem "Expressionismus" bisher nichts war als ein leeres Wort, wird an diesen Bildern erkennen und ohne es zu ahnen, lernen, wie der Expressionismus der jeweiligen bildlich dargestellten Situation die gewollte Stimmung einimpft und den Beschauer beispielsweise zwingt, einen Zwischentitel bewußt so und mit der Betonung zu lesen, wie ihn der Schauspieler auf der Bühne gesprochen hätte. Diese Suggestion, die die häufige Lächerlichkeit der Titel unterbindet, muß eben aus dem Bilde herausgeschaffen werden und nicht, wie es letzthin versucht wurde, durch eine allegorische Umrahmung der Titelschrift, die das Publikum von der Handlung des Films abzieht und auch beim Nachlesen der Titel irritiert und stört.

Diese letzte Ausführung von Hermann Warm, der schon längere Zeit bei der Decla künstlerisch tätig ist, war mir besonders interessant und fand, als ich den Film [S. 5] dann in der Vorführung sehen durfte, vollauf Bestätigung. Walter Röhrig präzisiert diese Idee äußerst plastisch in dem Satz "Das Filmkunstwerk muß eine lebende Graphik werden". Hierauf führt auch die mitunter außerordentlich stark sichtbare Flächen-Linien und Tonauflösung der einzelnen Bilder zurück, d.i. eben die expressionistisch-originelle Form der Malerei, sie ist, wie die Herren einstimmig und zu Recht betonten, keine sensationelle Absicht, sondern notwendig begründet in der Idee eines Manuskriptes. —

Daß dieser Decla-Film infolge einer solchen künstlerischen Einheit eine Sensation, wenn auch im allerbesten Sinne für das Publikum darstellen wird, ist eine erfreuliche Tatsache, die ich nach den gewonnenen Eindrücken unbedenklich konstatieren darf.

Claus Groth (Julius Sternheim): Du mußt Caligari werden. Illustrierter Film-Kurier (Berlin) Nr. 6/ 1920 (Programmheft zum Filmstart), S. 2-5 (transkribiert von Olaf Brill). Nachdruck: Berlin: Deutsche Kinemathek 1970.



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